Die «Übersichtskarte von Polen» vom 5. September 1939 zeigt das vier Tage zuvor überfallene Polen. Die Grenzen wurden mit grüner Farbe markiert und der Ausbau des Verkehrsnetzes detailliert eingezeichnet. Es wird zwischen Doppelspurbahn, Einspur, Schmalspur und Strassen differenziert. Kartensammlung swisstopo. K 800 1940 2.33.
In den Beständen der Kartensammlung von swisstopo finden sich überraschende Karten. Darunter sind auch amtlich produzierte Karten zum Ausland. Wie kam es dazu, dass die Landestopografie Karten zu verschiedenen Regionen der Welt produzierte?
In den Beständen der Kartensammlung von swisstopo finden sich zahlreiche Bestände, die aus heutiger Perspektive überraschen. Dazu gehört auch eine grossformatige Mappe mit der Aufschrift «Sammelmappe der vom Kartographischen Bureau des Armeestabes erstellten Länderkarten. Herrn Oberst W. Kissling zur Erinnerung an die Aktivdienstjahre, 1939-1940». Die in der Mappe enthaltenen Karten bilden mehrheitlich nicht etwa die Schweiz ab, sondern vielzählige Regionen Europas und der Welt. Darunter ist auch eine Übersichtskarte zu Polen, datiert auf den 5. September 1939, also vier Tage nach dem deutschen Überfall und Beginn des Krieges. Diese Karte trägt, wie die meisten dieser Mappe, die Aufschriften der Eidgenössischen Landestopografie sowie des Armeestabes. Beim Inhalt der Mappe handelt es sich nicht um eine Ansammlung von international produzierten Karten, sondern meist um internationale Karten, die in Zusammenarbeit von Armeestab und Landestopografie entstanden sind. Doch wie sah diese Kollaboration aus und wie und zu welchem Zweck wurden diese Karten erstellt?
Die Karten aus der Mappe Kissling sind auf Wikimedia Commons in hoher Auflösung frei verfügbar: Klicken Sie hier
In Kriegszeiten steigt der Bedarf an präzisem Kartenmaterial. Als sich die politische Lage in der Mitte der 1930er Jahren in Europa zuspitzte, berief sich die Landestopografie in einem Schreiben an die Generalstabsabteilung auf die Erfahrungen aus dem Ersten Weltkrieg und erinnerte an die hohen Kartenbedürfnisse der Armee, welche das Personal der Landestopografie damals überfordert hatten. Primär ging es der Direktion darum, ihr Personal, im Falle einer Mobilmachung, als auf dem Posten zu verbleibendes Personal eingereiht zu haben. Dabei argumentierte die Direktion, dass das Bundesgesetz über die Erstellung neuer Landeskarten von 1935 unweigerlich zu einer Unabkömmlichkeit ihres Personals führe.
Doch die Generalstabsabteilung widersprach den Wünschen der Landestopografie und das dem Militärdepartement unterstellte Amt hatte bei einer Mobilmachung in erster Linie prompt die von der Armee gewünschten Arbeiten auszuführen und die Produktion der Landeskarte zurückzustellen. Die vorgesehenen Arbeiten für die Armee bestanden darin, die noch hauptsächlich aus Dufour- und Siegfriedblättern bestehende Ausrüstung der Truppen nachzutragen und in grosser Auflage neu zu drucken. Viel Personal wurde entgegen dem Vorstoss der Direktion abkommandiert. Nichtsdestotrotz erhörte die Generalstababteilung die Beschwerden der Landestopografie bezüglich personeller Überforderung im Ersten Weltkrieg. In Folge wurde die gesamte amtliche Kartenproduktion für den Aktivdienst neu strukturiert.
Um die in Kriegszeiten benötigte Produktion von Kartenwerken sicherzustellen, wurde ein Teil der Kartenproduktion in den Armeestab verlegt. Gesamthaft gesehen existierten auf Bundesebene fortan drei amtliche Stellen, die sich mit der Kartenproduktion beschäftigten. Zu diesen gehörte die Landestopografie, das Kartenbüro und die Kartographie. Während die Landestopografie weiterhin intakt blieb, richtete die Generalstabsabteilung mit Beginn des Aktivdiensts eine sogenannte Kartographie beim Armeestab ein. Diese wurde zuerst von 1939 bis 1941 der Nachrichtensektion und dann von 1941 bis 1945 der Operationssektion zugeteilt. Zusätzlich veranlasste das Armeekommando die Einrichtung eines Kartenbüros. Dieses war zeitweise direkt der Gruppe Front und zeitweise der Operationssektion unterstellt. Die Landestopografie selbst blieb unter der Leitung ihres Direktors Oberstbrigadier Karl Schneider. Das Amt teilte sich allerdings in eine Reduit-Zentrale auf dem Brünig unter Oberst Moritz Simon und einer Zentrale in Wabern unter Hans Zoelly. Mitarbeitende der Landestopografie wurden vor allem für den Dienst in die Kartographie des Armeestabs abkommandiert.
Doch wie funktionierte diese neu unterteilte Kartenproduktion? Die Arbeiten der Landestopografie konzentrierten sich auf die periodische Nachführung und den Druck der Armeekarten für Kriegskartenausrüstungen und die Abgabe von Leih- und Verbrauchskarten. Dazu kam die Reproduktion von der von der Armeeleitung entworfenen Karten, Skizzen und Tabellen. Weiter musste die Erstellung und Reproduktion von speziellen Karten und Plänen wie Festungskarten und Schiesskarten sowie das Kopieren und Vergrössern von terrestrischen- und Luftaufnahmen weitergeführt werden. Diese Arbeiten hingen direkt vom Kartenbüro ab. Das Kartenbüro agierte hauptsächlich als Schnittpunkt zwischen entscheidenden Armeestellen und der Landestopografie. Die Aufgaben des Kartenbüros fokussierten auf die Ausrüstung der Truppe. Sie organisierte fortlaufendend die Bereitstellung von Verbrauchs- und Leihkarten und gab der Landestopografie entsprechende Bestellungen in Auftrag. In Kontrast handelte es sich bei der von Landestopografiemitarbeitenden im Aktivdienst betriebenen Kartographie um eine neueingerichtete, selbständig agierende Kartenproduktionsstätte.
Tatsächlich produzierte die Kartographie Lagekarten, Operationspläne, Ordre de Batailles, Graphiken und geographische Karten. Beschäftigt wurden 10 Kartierer und Zeichner, 4 Fotografen, 3 Lithografen und 3 Drucker. Die Kartographie verfügte gar über eine kleine mobile Reproduktionsanstalt, sodass dringende Aufträge am Standort sofort umgesetzt und die Einrichtung mobil verwendet werden konnte. Die Feldreproduktionseinrichtung kostete den Armeestab 2000 Schweizerfranken. Dazu gehörten eine 1940 angeschaffte Lichtpausmaschine, ein Entwicklungsgerät, ein Drucktisch, Farbwalzen und eine 1944 erworbene Lichtpausmaschine.
Die mobile Kartographie zügelte sehr oft. Während der Grund für die wiederholten Umzüge unklar bleibt, sind die jeweiligen Standorte gut dokumentiert. Die Kartographie war 1939 im Bundeshaus und im Schloss Spiez, von Ende 1939 bis Anfang 1941 im Sekundarschulhaus Langnau, im Sekundarschulhaus Worb und von 1941 bis 1944 in den Hotels Jungfrau und Metropole in Interlaken stationiert. Von 1944 bis 1945 machte die Kartographie Halt im Pestalozzi-Schulhaus Burgdorf und zuletzt nochmals im Hotel Metropole in Interlaken. Doch was produzierten die von der Landestopografie abkommandierten Mitarbeitenden für die Kartographie und was macht die Karten-Mappe so speziell?
Die Kartographie produzierte während ihres Bestehens je nach Quelle 67 oder 100 geografische Karten zum Weltgeschehen, 2200 Standort- und operative Karten, 400 Ordres de Bataille und 2500 Zeichnungen und Grafiken. Mit der Felddruckerei wurden von diesen Karten rund 100’000 Drucke angefertigt. In der Mappe findet sich eine Auswahl von 55 geografischen Karten, welche unterschiedliche Weltregionen abdecken. Laut Quellen wurden diese, trotz des teilweise vorhandenen Aufschrift «Eidg. Landestopographie», mehrheitlich von der Kartographie des Armeestabs gefertigt. Ausnahmen sind einige wohl über geheime ausländische Kontakte erhaltene Karten. Darunter befinden sich auch zwei damals klassifizierte Karten des deutschen Heeres zur Schweiz.
Vorhanden sind zahlreiche Karten, welche jeweils wichtige Infrastrukturen und zum Teil auch Handelsrouten aufzeigen. In der oben erwähnten Karte zu Polen von 1939 sind zum Beispiel die detaillierten Ausbaustandards des Verkehrsnetzes eingezeichnet (Abb. 1). Eine Karte zum Vereinten Königreich illustriert Handels- und Produktionswege (Abb. 2). Zahlreiche Karten bilden Krisen und Kriegsgebiete des Zweiten Weltkrieges ab. So zeigt zum Beispiel die Karte «Territoires Français actuellement sous régimes allemands et italiens» die Besatzungszonen des besiegten Frankreichs (Abb.3). Gesamthaft ermöglichen die Karten Einblicke in die Beobachtungen des Armeestabs der internationalen Lage während des Krieges.
Der Leiter des Kartenbüros beschenkte den Sekretär des Eidgenössischen Militärdepartements Oberst Walter Kissling mit der Karten-Mappe als Erinnerung zur Aktivdienstzeit. Die geschenkten Karten bezeugen heute nicht nur die Arbeit des Armeestabes, sondern dokumentieren auch ein Kapitel Kartengeschichte, in der sich die amtliche Kartenproduktion über die nationalen Grenzen der Schweiz hinwegsetzte und die Welt kartografierte. Gerade die über das Kartenbüro koordinierte und von Mitarbeitenden der Landestopografie produzierten Karten der Kartographie demonstrieren die enge Verflechtung und Zusammenspiel von Landestopografie, Kartenbüro und Kartographie zu Zeiten des Zweiten Weltkrieges. Dank der Strukturierung des amtlichen Kartenwesens gelang die Produktion dieser aus heutiger Perspektive sonderbaren amtlichen Karten zum Ausland.