Grenzfall Testa Grigia

17. Giu.. 2025

Einer der 1938 gesetzten Grenzsteine auf der Testa Grigia (Bildsammlung swisstopo, Inv. Nr. 000-424-610).

Der Bau einer Seilbahn vom italienischen Breuil auf die Testa Grigia rief 1937 die Bundesbehörden auf den Plan: Die Endstation lag im sensiblen italienisch-schweizerischen Grenzgebiet.

Felix Frey

Felix Frey

Historischer Fachspezialist

Kontrollverlust an der Landesgrenze?

Die Aussicht, dass eine italienische Seilbahn täglich hunderte Passagiere an die Landesgrenze bringen könnte, sorgte in Bern für Stirnrunzeln. Aus der Perspektive von Zoll und Armee war das Hochgebirge nicht zuletzt auch ein Schutzwall aus Stein und Eis. Er erschwerte unerlaubte Grenzübertritte, Schmuggel und militärische Angriffe. Der Bau einer Luftseilbahn, mit der sich 1450 Höhenmeter innerhalb von 20 Minuten überwinden liessen, stellte diese einstige Gewissheit plötzlich infrage. Der für auswärtige Angelegenheiten zuständige Bundesrat Giuseppe Motta gab 1937 zu Bedenken:

L'existence d'une station d'arrivée [...], donnant accès à de vastes champs de ski situés en Suisse, semble présenter en outre quelque danger au point de vue du contrôle de la frontière [...].

Neben der Seilbahnstation wollte die S.A. Cervino auch ein Restaurantgebäude errichten. Es sollte vollständig auf dem Schweizer Teil der Testa Grigia zu stehen kommen. Bundesrat Rudolf Minger, Vorsteher des Militärdepartements, befürchtete aber eine Zweckentfremdung des Restaurantgebäudes. 1938 rief er zu grösster Wachsamkeit auf:

Es ist daher von Wichtigkeit, durch regelmässige scharfe Kontrolle während des Baues dafür zu sorgen, dass keinerlei bauliche Einrichtungen angebracht werden, die andern als dem Restaurantsbetrieb dienen können (z.B. etwa Munitionsmagazine oder unterirdische Stollen zur Endstation […]).

Ein stillschweigender Baubeginn

Im Sommer 1937 wurde es still in Sachen Testa Grigia – die S.A. Cervino meldete sich monatelang nicht mehr bei den Schweizer Behörden zurück. Am 29. Juli 1937 rapportierte der Schweizer Grenzschutz aber eine überraschende Beobachtung: Ohne Rücksprache mit den Schweizer Behörden hatte die S.A. Cervino auf der Testa Grigia stillschweigend eine Hilfsbahn installiert, Pfeiler für Strom- und Telefonleitungen errichtet und einen Teil der Sprengungen für die Endstation der Seilbahn vorgenommen.

Wie der Oberzollinspektor berichtete, stellten sich die Italiener auf den Standpunkt, dass die Bauarbeiten auf der Testa Grigia die Schweiz nicht tangierten. Eine «im Fels der Testa Grigia vorgefundene kupferne Grenzmarke» belege nämlich: «Die ganze Kopfstation der Bahn komme auf italienischen Boden zu liegen, weitere Verhandlungen mit den schweizerischen Behörden seien daher überflüssig.»

Endgültige Definition der Grenze

Angesichts der italienischen Bauarbeiten auf der Testa Grigia war im Herbst 1937 klar, dass die Grenzlinie so bald wie möglich im Detail bestimmt werden musste. Die Landestopografie veranlasste, dass die italienisch-schweizerische Grenzkommission die Frage endgültig klärte, sobald der Frühling die Kuppe vom Schnee befreite und günstigeres Wetter eine Begehung erlaubte. Im April 1938 war es schliesslich soweit. Doch wie die Eidgenössische Zollverwaltung berichtete, stiess die binationale Grenzbegehung auf zwei Schwierigkeiten. Erstens liess sich die natürliche Wasserscheide kaum mehr feststellen, «da die Kuppe der Testa Grigia in letzter Zeit durch die Ab- und Ausgrabungen für die Vorarbeiten des Baues der Seilbahn ordentlich verändert worden ist.» Noch schwerer wog das zweite Problem: Der Vertreter der italienischen Seite, Major Lavizzari, behauptete bei der Grenzbegehung, dass die Wasserscheide so verlaufe, dass die gesamte Felskuppe der Testa Grigia auf italienischem Boden liege. Auch vor Ort war die Wasserscheide nämlich nicht vollständig objektiv feststellbar. Sie blieb – wenn es ganz genau sein musste – ein Stück weit Verhandlungssache.

Der Leiter der Schweizer Delegation, Oberst Schnetzer, erzählte in seinem Bericht davon, wie sich die Meinungsverschiedenheit letztlich lösen liess.

Nach dem Mittagessen kam Major Lavizzari auf die Sache zurück, änderte seine Ansicht beträchtlich & erklärte, dass ein ‹malinteso› vorliege. […] Nach längerem Hin- & Her einigte ich mich mit ihm auf einen Grenzverlauf. Es steht ausser Zweifel, dass wir mit dieser Grenzlinie zufrieden sein müssen & dürfen.

Im Mai 1938 wurde der vereinbarte Verlauf der Wasserscheide auf der Testa Grigia mit fünf Grenzsteinen markiert. Zwischen den Steinen verlief die Grenze jeweils in einer geraden Linie. Damit war sie endlich präzise genug definiert, um eindeutig zu sagen, welches Gebäude des Seilbahnkomplexes auf welcher Seite der Grenze lag.

Auch natürliche Grenzen sind menschgemacht

Die Geschichte der Landesgrenze auf der Testa Grigia zeigt, wie viel Definitionsarbeit hinter der scheinbar selbstverständlichen Landesgrenze der Schweiz steht. Sie ist das Produkt zahlloser Verhandlungen, Konferenzen und Begehungen, die oft in unwegsamem Gelände und bei schwierigem Wetter stattfanden – denn wenn man es genau wissen musste, reichte der Strich auf der Karte nicht mehr aus.

Im Fall der Testa Grigia konnte die Grenzfrage zwischen Italien und der Schweiz einvernehmlich geklärt werden. Die Einigung ebnete auch den Weg für die Fertigstellung der Luftseilbahn, die den Klärungsbedarf überhaupt erst erschaffen hatte: Nach vier Jahren Bauzeit nahm sie im März 1939 den Betrieb auf.

Historische Fotografien zum Thema sind auf Wikimedia Commons in hoher Auflösung frei verfügbar. Klicken Sie hier.

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