Die «Churchill-Karte» – eine Karte, die es nicht geben dürfte

01. Dic.. 2022

Die von Guisan am 3. September 1946 an Churchill überreichte Karte zeigte die Befestigungen des Reduits der Schweiz.

2021 wurde im ehemaligen Landsitz von Winston Churchill eine Karte der Landestopografie mit hervorstechenden Handmarkierungen entdeckt. Die Karte hatte General Henri Guisan Churchill bei seinem Besuch der Schweiz 1946 geschenkt. Sie offenbart das Verhältnis der Schweiz zu den Westalliierten nach dem Zweiten Weltkrieg.

Als am 8. Mai 1945 mit der bedingungslosen Kapitulation Deutschlands der Zweite Weltkrieg in Europa endete, versuchte sich die Schweiz in der neuen geopolitischen Machtkonstellation zwischen den Westalliierten und der Sowjetunion als westlich orientierter, aber politisch neutraler Staat zu positionieren. Dass die Schweiz während des Zweiten Weltkriegs weiterhin Finanz- und Wirtschaftsbeziehungen zu Nazideutschland unterhalten hatte, hatte bei den Alliierten für Irritationen gesorgt. Nach dem Krieg suchte die Schweiz nach einem Weg aus der Isolation. Mit dem Washingtoner Abkommen vom Mai 1946 verpflichtete sich die Schweiz 250 Mio. Franken für den europäischen Wiederaufbau zu zahlen. Das Verhältnis zu den Alliierten entspannte sich. Die Vereinigten Staaten gaben die ab 1941 blockierten Schweizer Guthaben in den USA frei und die Sowjetunion nahm erstmals diplomatische Beziehungen mit der Schweiz auf.

Bereits am Gipfeltreffen der alliierten Machthaber Franklin Roosevelt, Josef Stalin und Winston Churchill im Februar 1945 in Jalta auf der Krim hatte sich für Europa eine Aufteilung in eine westliche und östliche Interessensphäre abgezeichnet. Churchill (1874–1965) galt als grosser Kritiker der ideologischen und geopolitischen Ausrichtung der Sowjetunion und begegnete Stalin stets mit Misstrauen. Kurz nach der Kapitulation der Wehrmacht nutzte Churchill erstmals den Begriff des «Eisernen Vorhangs», um die von ihm befürchtete Unterdrückung Osteuropas unter sowjetischer Besatzung und die Trennung Europas in zwei voneinander isolierte Hälften zu bezeichnen. Nachdem Churchill im Juli 1945 abgewählt worden war, führte er als Oppositionsführer seine antisowjetische Kampagne fort.

Im September 1946 besuchte Churchill auch die Schweiz. Offiziell verbrachte er vom 23. August bis am 20. September Malferien in Choisi am Genfersee. Persönlichkeiten aus der Schweizer Industrie finanzierten Churchills Aufenthalt mit und sahen im Besuch auch eine Möglichkeit der wirtschaftlichen Annäherung. Sie schlugen dafür einen Auftritt in Zürich vor. Churchill willigte ein, eine Rede vor der akademischen Jugend zu den zukünftigen «Vereinigten Staaten Europas» zu halten. Auf dem Münsterhof wurde Churchill von Zehntausenden willkommen geheissen. In Choisi empfing Churchill nur wenige Gäste.

Eine Karte offenbart die Positionierung der Schweiz im Kalten Krieg

Auch die offizielle Schweiz versuchte Churchills Besuch für eine Annäherung an die Westalliierten zu nutzen. Am 3. September besuchte General Guisan (1874–1960) Churchill in Choisi, nachdem dieser eine Besichtigung des Schweizer Reduits dankend abgelehnt hatte. Guisan hatte ab 1939 der Schweiz als General gedient und galt als Verfechter der Schweizer Reduitstrategie, welche bei einem deutschen Angriff den Rückzug der Armee in die Alpenfestungen vorgesehen hätte. Der Brite widmete Guisan einen halben Nachmittag. Generalsekretär Hans Bracher hatte den Besuch organisiert und obwohl Guisans Dienst offiziell am 20. August 1945 geendet hatte und Churchill zu dieser Zeit nicht als Premierminister waltete, hatte das Zusammentreffen auch einen dienstlichen Charakter. Dies unterstrich Brachers Bericht nach Bern und auch Churchills Bedingung, Guisan nur zu empfangen, wenn dies dem Bundespräsidenten genehm sei (dodis.ch/2184).

Über den Austausch ist lediglich bekannt, dass der englische Oppositionsführer sein Wohlwollen gegenüber der Schweiz und insbesondere seine antikommunistischen Positionen bestätigte. Churchill soll gar von einem möglichen Präventivkrieg gegen die Sowjetunion gesprochen haben und merkte an, dass bei einem Zusammenstoss die Schweiz als «wertvoller Vorposten» der Alliierten dienen würde. Da das Zusammentreffen von Churchill und Guisan unter vier Augen stattfand und kein Sitzungsprotokoll geführt wurde, kannten wir bis anhin nur die von Guisan an Bracher übermittelten Einschätzungen zu Churchills Sichten auf die Schweiz und die internationale Lage (dodis.ch/2184). Zu den Äusserungen Guisans schwieg Brachers Bericht. Guisan hatte allerdings Churchill bei seinem Besuch eine Karte übergeben.

Die in Chartwell House bei Bestandsaufarbeitungen aufgetauchte und nun dort verzeichnete und aufbewahrte Karte gibt einen Einblick in die Offenheit Guisans gegenüber Churchill und seiner Bemühung um eine Annäherung an die westlichen Siegermächte. Karten spielen in der Kriegsführung eine wichtige Rolle. Auch das Schweizer Militär hatte zu diesem Zweck Alpenfestungen und Reduit exakt kartografiert. Diese Karten enthielten Details, die in den veröffentlichten Karten der Landestopografie nicht eingezeichnet waren und der Geheimhaltung unterlagen. 

Bei der im Massstab 1:300 000 gehaltenen und mit einem Relief ausgestatteten Karte handelt sich um eine Reduktion der «Generalkarte der Schweiz» im Massstab 1:250 000. Der Vermerk «Eidg. Landestopographie» verweist auf die amtliche Produktion der Karte. In verschiedenen Farben wurden Grenzen gegenüber dem Ausland, militärische Stellungen, das Reduit am Gotthard und die Festungen Sargans und St.Maurice grob von Hand mit einem Stift grossflächig auf der Karte markiert. Nördlich der Ost-West-Reduitlinie wurden mit zahlreichen verschiedenfarbigen Linien die vermutlichen Verteidigungs-, Einfalls- und Rückzugslinien von mobilen Truppen ins Reduit markiert, nachdem die Stellungen der Schweizer Vortruppen von feindlichen Kräften durchbrochen worden wären. Laut vorhandener Notiz in Chartwell House überreichte Guisan die Karte Churchill während des Treffens. Guisan muss bei der Zusammenkunft mit Churchill demnach ausführlich über die Verteidigungsstellungen und militärischen Kapazitäten der Schweiz berichtet haben.

Die «Churchill-Karte» illustriert, wie sich die Schweiz nach dem Zweiten Weltkrieg in einer neuen geopolitischen Lage, zwischen West und Ost, neu zu positionieren versuchte. Es ist denkbar, dass Guisan den britischen Staatsmann zu beeindrucken versuchte und ihm die Glaubwürdigkeit der Schweizer Verteidigung im Zweiten Weltkrieg plausibilisieren wollte. Ebenfalls dürften die ungefähren Positionen der Festungen den diversen Geheimdiensten bekannt gewesen sein und es sich dabei um ein offenes Geheimnis gehandelt haben. Bracher beobachtete, dass Churchill, obwohl zu dieser Zeit nicht Premierminister, weiterhin sein globales Netzwerk pflegte und auch in Zukunft eine bedeutende Rolle auf dem internationalen Parkett spielen dürfte. Ungeachtet der unbekannten Intentionen Guisans, veranschaulicht die Übergabe der Karte und die Offenlegung militärischer Stellungen dann den klaren Versuch einer Annäherung an die Westalliierten.

Während offiziell die Rolle eines neutralen Staates propagiert wurde, weist die Karte darauf hin, dass die Schweiz sich auch militärisch den westlichen Siegermächten anzunähern versuchte. Mit der Weitergabe der Karte an eine der international prominentesten antikommunistischen Stimmen seiner Zeit, trug Guisan auch nach Ende seiner Dienstzeit zur Positionierung der Schweiz im westlichen Lager bei. Die Karte zeugt von der Schweizer Befreiung aus der geopolitischen Isolation des Zweiten Weltkrieges und rückt die Bekenntnisse zur Neutralität im Kalten Krieg in ein neues Licht.

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