Mit grosser Wahrscheinlichkeit zeigt dieses Porträt Alexandre Stryienski in seinem letzten Lebensjahrzehnt. Fotozitat aus: Maggetti 2014, S. 41 (s.u.).
Alexandre Stryienski kam 1804 im preussischen Białystok zur Welt, rebellierte gegen die russische Herrschaft in Polen und vermass ab 1833 Schweizer Landschaften. Wie kam es zu diesem bemerkenswerten Lebenslauf?
Im Jahr 1855 erschien die Carte topographique du canton de Fribourg im Massstab 1:50 000. Ein polnischer Einwanderer mit klingendem Namen hatte massgeblich zu dieser Wegmarke der Schweizer Kartografie beigetragen: Alexandre Casimir Napoleon Stryienski (1804–1875) führte zwischen 1844 und 1852 topografische Aufnahmen im Kanton Freiburg durch. Die Resultate dieser Arbeiten flossen auch in Blatt XII Freyburg, Bern der Topographischen Karte der Schweiz (Dufourkarte) ein. Um zu verstehen, weshalb ein osteuropäischer Topograf die Westschweiz vermass, ist ein Blick auf seine bewegte Biografie erforderlich.
Alexandre Stryienskis Auswanderung in die Schweiz ist eng mit der dramatischen Lage des polnischen Staates (Polen-Litauen) im 18. Jahrhundert verbunden. 1772, 1793 und 1795 teilten Preussen, Österreich und Russland Gebiete ihres von inneren Unruhen und Kriegsniederlagen geschwächten Nachbarstaats unter sich auf. Die dritte Teilung von 1795 besiegelte die Auflösung Polen-Litauens; erst 1918 sollte es wieder einen eigenständigen polnischen Staat geben.
Alexandre Stryienskis Biografie war von den Teilungen Polens geprägt. 1804 in Białystok geboren, wuchs er im Russischen Reich auf und erarbeitete sich eine erfolgreiche Karriere. Gemäss dem Freiburger Geografen Marino Maggetti wurde Stryienski an der militärischen Kadettenschule in Warschau zum Genie-Ingenieur ausgebildet. Weil Warschau zu jener Zeit wie Białystok unter russischer Herrschaft stand, zog Stryienski 1828 mit der Armee des Zaren ins heutige Bulgarien, wo er am Russisch-Türkischen Krieg teilnahm. Für seinen Einsatz wurde er zum Hauptmann im russischen Generalstab befördert.
Dem militärischen Aufstieg zum Trotz entschied sich Stryienski 1830/31, am Novemberaufstand teilzunehmen, der die Unabhängigkeit Polens von Russland zum Ziel hatte. Der Aufstand wurde zum Wendepunkt im Leben des Topografen und Militärs: Die Rebellion scheiterte, Stryienski wurde in Abwesenheit zum Tod verurteilt. Wie viele andere Angehörige der polnischen Oberschicht flüchtete er nach dem gescheiterten Aufstand nach Frankreich, 1833 übersiedelte er von dort in die Schweiz.
Trotz des abrupten Bruchs in seiner Biografie konnte Alexandre Stryienski in seiner neuen Heimat Fuss fassen. Wie es im polnischen Adel zu jener Zeit üblich war, sprach er fliessend Französisch und konnte sich dank seiner Ausbildung bald in französischsprachigen Gebieten der Schweiz als Vermessungsingenieur etablieren. Im Auftrag des Kantons Bern erstellte Stryienski zwischen 1833 und 1839 unter anderem sechs Waldkarten des Juras, bevor er die Tätigkeiten aufnahm, die ihm einen Platz in der Schweizer Kartografiegeschichte sicherten: 1838 zog Stryienski nach Carouge bei Genf, wo er fortan im Eidgenössischen Topographischen Bureau und als Angestellter der Genfer Kantonsverwaltung wirkte. Im Auftrag Guillaume Henri Dufours führte er 1839–41 Vermessungen im Kanton Wallis durch; 1843/44 trat er – parallel zur Tätigkeit auf eidgenössischer Ebene – in den Dienst der Kantone Freiburg und Waadt.
1847 stellte der Kanton Freiburg Stryienski den Neuenburger Ingenieur Henri d’Hardy zur Seite, der ebenfalls topografische Aufnahmen durchführte. Die Vermessungsarbeiten der beiden Männer ermöglichten nicht nur die Carte topographique du canton de Fribourg, sondern flossen auch in Blatt XII Freyburg, Bern der Dufourkarte ein.
Ein wichtiges Ziel bei der Aufnahme der Carte topographique du canton de Fribourg war es, das Wissen um die Höhen und Tiefen des Kantons zu mehren. Zwar hatte der Berner Geodät Nikolaus Ludwig Friedrich Luthardt (1790–1861) im Zuge der eidgenössischen Triangulation für die Dufourkarte bereits im Kanton Freiburg gearbeitet und dabei 25 Punkte mit bekannter Höhe ermittelt. Stryienski empfand die Zahl bestehender Höhenkoten aber als «fort incomplète» für sein Vorhaben; zudem stufte er ihre Genauigkeit insbesondere im Greyerzerland und im Veveyse-Bezirk als ungenügend ein. Stryienski ermittelte deshalb am Messtisch selbst hunderte neue Punkte: «Souvent pendant le cours de ses travaux, l’Ingénieur a senti l’insuffisance des données de la triangulation; […] il lui a fallu combler ces lacunes en determinant à la planchette les nouveaux points nécessaires.» Für die Bergregionen des Kantons nutzte er den Moléson als Ausgangspunkt, «dont on est plus sûr que des autres». Hier spielte Stryienski wohl darauf an, dass französische Ingenieur-Geografen den Freiburger Voralpengipfel bereits Jahrzehnte zuvor in seiner Höhe bestimmt hatten.
Aus Alexandre Stryienskis und Henri d’Hardys Arbeiten resultierte 1852 ein Höhenregister mit vielen hundert Koten. Entsprechend feingliedrig konnte das Kartenmaterial die Höhen des Kantons wiedergeben: In den insgesamt 24 Originalaufnahmen (1:25 000) zeigten Höhenkurven mit einer Äquidistanz von 10 Metern in der Ebene und 20 Metern in den Berggebieten das Relief des Kantons Freiburg in einem ungekannten Detaillierungsgrad. Für die 1855 publizierte Carte topographique du canton de Fribourg wurden die Höhenkurven jedoch durch intuitiver lesbare Schraffen ersetzt.
(Alle Zitate basierend auf Dokumenten des Staatsarchivs Freiburg)
Alexandre Stryienski erlebte in der Eidgenossenschaft einen kometenhaften Aufstieg. Nur fünf Jahre nach seiner Flucht via Frankreich in die Schweiz gehörte er 1838 zu den ersten Angestellten des Eidgenössischen Topographischen Bureaus, bis 1860 fanden seine topografischen Aufnahmen Eingang in zwei Blätter der Dufourkarte und dienten als Grundlage der Freiburger Kantonskarte.
Als einer der ersten Mitarbeiter des Eidgenössischen Topographischen Bureaus wirkte Stryienski in der Keimzelle der heutigen Schweizer Landesvermessung. Dass Stryienski sich dieser besonderen Ehre bewusst war, legen seine Briefsignaturen nahe, in denen er nicht – wie sonst üblich – nur die Gemeinde nannte, in der er den Brief verfasst hatte, sondern auch das Haus: In der Maison Chossat in Carouge hatte Guillaume Henri Dufour 1838 das Eidgenössische Topographische Bureau gegründet. Dass er seine Briefe in der Herzkammer der Schweizer Kartografie schrieb, betonte Stryienski regelmässig. Auf subtilere Weise unterstrich er aber auch seine polnische Herkunft, wenn er seinen Nachnamen mit dem polnischen Nasallaut «ń» versah.
Es ist aber insbesondere Stryienskis Lebensabend, der davon zeugt, dass der Aufständische von 1830/31 seine erste Heimat zeitlebens nicht vergessen hatte. So engagierte er sich für polnische Flüchtlinge, die – ähnlich wie Stryienski selbst dreissig Jahre zuvor – nach einem erneuten Aufstand gegen die russische Herrschaft 1863/64 in der Schweiz Zuflucht gefunden hatten.
Die amtliche Kartografie der Schweiz war bereits in frühen Jahren mit der Welt verflochten und griff rege auf ausländische Erkenntnisse und Experten zurück. Guillaume Henri Dufour wurde in Paris zum Ingenieurgeografen ausgebildet, seine Kupferstecher stammten aus Frankreich und dem Südtirol, und mit Alexandre Stryienski war ein aus dem damaligen Russland geflüchteter Adliger im Dienst des Bureaus. Zwar stellten Kantons- und Landeskarten klar umgrenzte Territorien dar – die Menschen, Instrumente und Fertigkeiten, die hinter diesen Karten standen, zeugen jedoch davon, wie international die nationale Kartografie war und ist.