Es ist wieder Maronizeit. Die braunen Nussfrüchte erfreuen sich bei den Schweizerinnen und Schweizern grosser Beliebtheit. Das zeigen die Importstatistiken der Eidgenössischen Zollverwaltung: Im September schnellen die Einfuhren alljährlich in die Höhe, von null auf rund 900 000 Tonnen Esskastanien und Maronen. Maroni auf dem Wildteller, am Strassenstand oder als Vermicelles gehören hierzulande zum Herbst dazu.
Ein ausserordentliches Interesse an Kastanien zeigt sich nicht nur im herbstlichen Appetit. Auch bei der Erstellung amtlicher Karten spielte das Nahrungsmittel – oder, genauer: die Bäume, an denen es wächst – zeitweise eine prominente Rolle. Der Topographische Atlas der Schweiz, besser als Siegfriedkarte bekannt, verewigte die Kastanienwälder der Schweiz im Kartenbild.
Beispielhaft zeigt sich dies in den 1914 veröffentlichten Blättern 542 Ponte Tresa und 543 Melide der Siegfriedkarte. Im Gegensatz zu ihren Vorgängerversionen stellten sie die Wälder rund um das malerische Dörfchen Carona bei Lugano nicht mehr mittels der gängigen Waldsignaturen dar, sondern spezifizierten, was für eine besondere Baumsorte um den Ort herum wuchs: Ab 1914 erschienen Siegfriedkartenblätter, die eine Kastaniensignatur aufwiesen, in unveröffentlichten Probedrucken hatte die Landestopographie sogar schon 1910/11 mit der neuen Kennzeichnung experimentiert. 1922 erschien die Kastaniensignatur schliesslich erstmals in der Zeichenerklärung des Kartenwerks.
Um zu verstehen, weshalb die Edelkastanie mit einer eigenen Signatur gewürdigt wurde, ist zunächst ein Blick auf ihre steile Karriere erforderlich. Die Baumart war ein botanischer Neuzugang in den Schweizer Südalpen; erst die Römer brachten sie dorthin. Sie ist auf warmes Klima angewiesen, mag saure Böden und kommt mit steilen Hängen gut zurecht, weshalb sie auf der Alpensüdseite ein geeignetes Zuhause gefunden hat. Bis heute wachsen 98% der Schweizer Kastanien in jenem Landesteil. Die Bäume sind aber nicht nur vom Klima, sondern auch vom Menschen abhängig: «Ohne forstliche Pflege würde die Edelkastanie allmählich verschwinden, da sie nicht konkurrenzfähig ist gegenüber den natürlichen Baumarten», wie die Biologin Ursula Heiniger betont.
Dank aktiver Pflege und günstiger klimatischer Bedingungen wurde die Edelkastanie im Laufe der Jahrhunderte zu einer bedeutenden Vitamin- und Kalorienlieferantin für Mensch und Tier. Man röstete ihre Früchte, kochte sie, stellte Mehl aus ihnen her und verwendete sie zur Schweinemast. Das Holz der Bäume eignet sich für Anwendungen im Haus- und Landschaftsbau, das Laub lässt sich an Ziegen verfüttern. Steinpilze leben symbiotisch mit Kastanien und treten deshalb gehäuft in ihrer Nähe auf. Eine Kastanienselve, also ein von Menschen gepflegter reiner Kastanienwald, brachte auf vielen Ebenen Nutzen.
Im Laufe des 19. Jahrhunderts geriet die Edelkastanie trotz ihrer zahlreichen Vorzüge in die Defensive. Wie Ursula Heiniger darlegt, setzte die Kartoffel im 19. Jahrhundert zu einem Siegeszug in den Schweizer Tälern an und wurde zur erfolgreichen Rivalin der pflegeintensiven Kastanie. Zudem beschleunigte die Gotthardbahn ab 1882 den grenzüberschreitenden Warenaustausch, weshalb Reis und Mais immer kostengünstiger wurden. Damit wuchs auch in den abgelegenen Tälern der Alpensüdseite die Konkurrenz für die Kastanie.
Warum die Abteilung für Landestopographie 1910/11 in Probedrucken begann, Kastanienwälder im Kartenbild zu verzeichnen, und weshalb sie dies ab 1914 auch in den veröffentlichten Blättern der Siegfriedkarte tat, lässt sich nicht mit Sicherheit sagen. Mit grosser Wahrscheinlichkeit war aber die Kombination von schrumpfenden Kastanienselven und einer wachsenden strategischen Bedeutung der Kulturwälder entscheidend. In den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg (1914–1918) erhöhte sich der Lederbedarf der Schweizer Armee deutlich. Angesichts der angespannten politischen Lage in Europa war die Versorgung der Truppen mit Leder für Stiefel, Sattel und Zaumzeug ein wichtiger Beitrag zur Wehrbereitschaft des Landes. Für die Lederproduktion war wiederum der Gerbstoff Tannin zentral: Er liess sich aus Kastanienholz extrahieren, was den Schweizer Selven neue Relevanz gab. Sie ermöglichten eine eigenständige Versorgung mit dem kriegswichtigen Gerbstoff.
Während des Ersten Weltkriegs brach die Tanninversorgung der Schweiz aus dem Ausland gänzlich ein, weshalb die Produktion im Inland weiter angekurbelt werden musste. Dies wurde in den Kriegsjahren 1914–1918 rege getan, wie Marco Conedera von der Eidgenössischen Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft (WSL) betont. Drei Fabriken in Chiasso, Maroggia und Olten versorgten die Schweiz in dieser Zeit mit Tannin, wozu sie täglich sieben bis acht Waggonladungen Kastanienholz verarbeiteten. Der Grossteil des Rohstoffs stammte aus dem Tessin und dem Misox.
Bis in die 1950er Jahre, als die Blätter des Landeskartenwerks diejenigen der Siegfriedkarte im Tessin ablösten, war der Kastanienbestand im Kartenbild einsehbar. Seit 1983 dokumentiert das Schweizerische Landesforstinventar regelmässig, wie es um die Bestände steht. Die besondere Signatur der Siegfriedkarte ist aber auch heute noch relevant, wenn auch nicht mehr wegen der Tannin-Produktion: Die Forschenden der WSL extrahieren die Kastanienflächen aus den Siegfriedkarten und nutzen diese Daten, um die Entwicklung der Selven zu analysieren.
Die Zukunft der Schweizer Kastanienwälder bleibt ungewiss. Gab es 1942 noch 9500 Hektaren Selven in der Schweiz, waren es 1986 nur noch deren 1400. In dieser Phase setzte neben den oben beschriebenen Faktoren auch der Kastanienrindenkrebs den Bäumen zu. Diese Entwicklung bewegte die Schweizer Filmwochenschau 1956 zu eindringlichen Worten, die zur Rettung der Kastanien aufriefen: «Es geht nicht nur um die Schönheit der Südschweiz. Es geht um ihr Leben!»
Jüngere Entwicklungen geben aber Anlass zu Optimismus. Zwar beläuft sich der Bestand an Kastanienselven im jüngsten Landesforstinventar weiterhin auf 1400 Hektaren, doch ist ihr Zustand inzwischen deutlich besser: Rund ein Viertel dieser noch bestehenden, teilweise vergandeten Selvenfläche wurde seit den 1990er Jahren restauriert und geniesst regelmässige Pflege.
Die Sichtbarmachung von Kastanienbeständen auf den Blättern der Siegfriedkarte zwischen 1914 und 1950 verdeutlicht, dass Kartenwerke stark von den Fragen und Problemen ihrer Zeit geprägt sind. Auch historische Kartenwerke waren in dieser Hinsicht überraschend dynamisch und anpassungsfähig. Karten und Geodaten erschaffen so bis heute Raumwissen, das Politik, Forschung und breiter Öffentlichkeit eine wichtige Basis für ihr Handeln bietet.